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Knill + Knill Kommunikationsberatung
Noch eine andere Erinnerung: fremde Leute, Geschäftigkeit,
Aufregung. Die Magd kam gerannt: "Die Fischer haben eine Leiche
geländet - über den Rheinfall hinunter - sie wollen sie
ins Waschhaus bringen". Mein Vater sagte: "Ja-Ja". Ich wollte die
Leiche sofort sehen. Meine Mutter hielt mich zurück und verbot
mir streng, in den Garten zu gehen. Als die Männer fortgegangen
waren, eilte ich heimlich durch den Garten zum Waschhaus. Aber die
Türe war verschlossen. Dann ging ich ums Haus herum. Auf der
hinteren Seite befand sich ein offener Ablauf zum Hang hinunter.
Da tröpfelte Wasser und Blut heraus. Das interessierte mich
ausserordentlich. Ich war damals noch nicht vier Jahre alt.
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In die Zeit der Trennung meiner Eltern fällt noch ein
anderes Erinnerungsbild: Ein junges hübsches, liebenswürdiges
Mädchen mit blauen Augen und blondem Haar führt mich an einem
blauen Herbsttag unter goldenen Ahorn- und Kastanienbäumen
spazieren. Wir gingen den Rhein entlang unterhalb des Wasserfalls beim
Schlösschen Wörth. Die Sonne schien durch das Laub und
goldene Blätter lagen am Boden. Das junge Mädchen ist
später meine Schwiegermutter geworden. Sie bewunderte meinen
Vater. Erst mit einundzwanzig Jahren habe ich sie wieder gesehen.
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Das sind meine äusseren Erinnerungen. Was jetzt folgt, sind
stärkere, ja überwältigende Dinge, an die ich mich zum
Teil nur dunkel erinnere: ein Sturz die Treppe hinunter, ein Fall
gegen das kantige Ofenbein. Ich erinnere mich an Schmerzen und Blut,
ein Arzt nähte mir eine Kopfwunde, deren Narbe noch bis in meine
späte Gymnasialzeit sichtbar war. Meine Mutter erzählte mir,
dass ich einmal mit der Magd über die Rheinfallbrücke
nach Neuhausen ging, plötzlich hinfiel und mit einem Bein unter
das Geländer glitt. Das Mädchen konnte mich gerade noch
erwischen und zurückreissen. Diese Dinge weisen auf einen
unbewussten Selbstmorddrang, beziehungsweise auf einen fatalen
Widerstand gegen das Leben in dieser Welt.
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Es bestanden damals unbestimmte Ängste in der Nacht. Es gingen
Dinge um. Immer hörte man das dumpfe Tosen des Rheinfalls, und
darum herum lag eine Gefahrenzone. Menschen ertranken, eine Leiche
fiel über die Felsen. Auf dem nahen Gottesacker macht der
Messner ein Loch; braun aufgeschüttete Erde.
Schwarze feierliche Männer in Gehröcken, mit ungewohnten
hohen Hüten und blank gewichsten schwarzen Schuhen bringen
eine schwarze Kiste. Mein Vater ist auch dabei am Talar und
spricht mit hallender Stimme. Frauen weinen. Es heisst, man begrabe
jemanden in diese Grube hinunter. Man sah gewisse Leute plötzlich
nicht mehr, die vorher da gewesen waren. Ich hörte, sie seien
begraben oder der "her Jesus" habe sie zu sich genommen.
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Meine Mutter hatte mich ein Gebet gelernt, das ich jeden Abend
beten musste. Ich tat es auch gern, weil es mir ein gewisses
komfortables Gefühl gab in Hinsicht auf die unbestimmten
Unsicherheiten der Nacht:
Breit aus die Flügel beide,
O Jesu meine Freude
Und nimm dein Küchlein ein
Will Satan es verschlingen,
So lass die Englein singen
Dies Kind soll unverletzet sein
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Der "her Jesus" war komfortabel, ein netter wohlwollender "her"
wie der "her" Wegenstein im Schlossreich, mächtig,
angesehen und achtsam in Bezug auf Kinder in der Nacht. Warum er
geflügelt sein sollte wie ein Vogel, war ein
kleines Wunder, das mich aber nicht weiter störte. Viel
bedeutsamer und Anlass zu vielen Betrachtungen
war aber die Tatsache, dass kleine Kinder mit "Chüechli"
(Schweizer Dialekt = kleine Kuchen) verglichen wurden, welche von
dem "her Jesus" offenbar nur widerwillig wie eine bittere
Medizin "eingenommen" wurden. Das war mir schwer verständlich.
Ich begriff aber ohne weiteres, dass Satan die Chüechli
gern hatte und darum verhindert werden musste, sie zu verschlingen.
Obschon als der "her Jesus" sie nicht mag, so isst er sie dennoch
dem Satan weg. Soweit war mein Argument "komfortabel". Nun aber
hiess es auch, dass der "her Jesus" überhaupt auch andere Leute
"zu sich nähme", was mit Verlochung in der Erde gleichbedeutend
war. Der sinistre Analogieschluss hatte fatale Folgen. Ich fing an,
dem "her Jesus" zu misstrauen. Er verlor seinen Aspekt als grosser,
komfortabler und wohlwollender Vogel und wurde mit den
finstern schwarzen Männern im Gehrock, mit Zylinder und
schwarzen blank gewichsten Schuhen, die mit der schwarzen
Kiste zu tun hatten, assoziiert.
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Diese meine Ruminationen führten zu meinem ersten bewussten
Trauma. An einem heissen Sommertag sass ich, wie gewöhnlich,
allein auf der Strasse vor dem Haus und spielte im Sand. Die Strasse
lief vor dem Haus vorbei zu einem Hügel, an dem sie emporstieg
und sich oben im Wald verlor. Man konnte daher vom Haus
aus eine grosse Strecke des Weges überblicken. Auf dieser
Strasse sah ich nun eine Gestalt mit breitem Hut und langem
schwarzem Gewand vom Wald herunter kommen. Sie sah aus wie ein Mann,
der eine Art Frauengewand trug. Die Gestalt kam langsam häher,
und ich konnte feststellen, dass es tatsächlich ein Mann war,
der eine Art bis auf die Füsse reichenden, schwarzen Rock trug.
Bei seinem Anblick befiel mich Furcht, die rasch zu tödlichem
Schrecken anwuchs, denn in mir formte sich die Entsetzen erregende
Erkenntnis: " Das ist ein Jesuit!". Kurz zuvor hatte ich nämlich
einem Gespräch zugehört, das mein Vater mit einem
Amtskollegen über die Umtriebe der "Jesuiten" führte. Aus
dem halb ärgerlichen, halb ängstlichen Gefühlston
seiner Bemerkungen erhielt ich den Eindruck, dass "Jesuiten" etwas
besonders Gefährliches, sogar für meinen Vater, darstellten.
Im Grunde wusste ich nicht, was "Jesuiten" bedeutetet. Aber das Wort
"Jesus" kannte ich aus meinem Gebetlein. Der Mann, der die Strasse
herunterkam, war offenbar verkleidet, dachte ich. Darum trug er
Frauenkleider. Wahrscheinlich hatte er böse Absichten. Mit
Todesschrecken rannte ich spornstreichs ins Haus, die Treppe hinauf
bis auf den Estrich, wo ich mich unter einem Balken in einem
finsteren Winkel verkroch. Ich weiss nicht, wie lange ich dort blieb.
Es muss aber ziemlich lange gewesen sein, denn als ich vorsichtig wieder
in den ersten Stock hinunter stieg und mit äusserster Behutsamkeit
den Kopf zum Fenster hinausstreckte, war weit und breit keine Spur mehr
von der schwarzen Gestalt zu sehen. Der Höllenschrecken lag mir
aber noch tagelang in den Gliedern und bewog mich, im Hause zu bleiben.
Und wenn ich später wieder auf der Strasse spielte, so war mir
doch der Waldrand ein Gegenstand unruhiger Aufmerksamkeit. Später
wurde es mir natürlich klar, dass die schwarze Figur ein sehr
harmloser katholischer Priester gewesen sei.
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Ungefähr zur selben Zeit - ich könnte nicht einmal mit
absoluter Sicherheit sagen, ob es nicht vor dem eben erwähnten
Ereignis war - erlebte ich meinen ersten Traum, an dem ich mich
erinnern kann, und der mich sozusagen mein Leben lang beschäftigen
sollte. Ich war damals drei oder vier Jahre alt.
Das Pfarrhaus steht allein beim Schloss Laufen, und hinter dem Hof
des Messners liegt eine grosse Wiese. Im Traum stand ich auf dieser
Wiese. Dort entdeckte ich plötzlich ein dunkles, rechteckiges
ausgemauertes Loch in der Erde. Ich hatte es noch nie zuvor gesehen.
Neugierig trat ich näher und blickte hinunter. Da sah ich eine
Steintreppe, die in die Tiefe führte. Zögernd und furchtsam
stieg ich hinunter. Unten befand sich eine Türe mit Rundbogen,
durch einen grünen Vorhang abgeschlossen. Der Vorhang war gross
und schwer, wie aus gewirktem Stoff oder aus Brokat, und es fiel
mir auf, dass er sehr reich aussah. Neugierig, was sich dahinter
wohl verbergen möge, schob ich ihn beiseite und erblickte
einen zirka zehn Meter langen rechteckigen Raum in dämmrigem
Lichte. Die gewölbte Decke bestand aus Steinen, und auch der Boden
war mit Steinfliesen bedeckt. In der Mitte lief ein roter Teppich
vom Eingang bis zu einer niedrigen Estrade. Auf dieser stand ein
wunderbar reicher goldener Thronsessel. Ich bin nicht sicher, aber
vielleicht lag ein rotes Polster darauf. Der Sessel war prachtvoll,
wie im Märchen, ein richtiger Königssessel! Darauf stand
nun etwas. Es war ein riesiges Gebilde, das fast bis an die Decke
reichte. Zuerst meinte ich, es sei ein hoher Baustamm. Der Durchmesser
betrug etwa fünfzig bis sechzig Zentimeter und die Höhe
etwa vier bis fünf Meter. Das Gebilde war aber von merkwürdiger
Beschaffenheit: es bestand aus Haut und lebendigen Fleisch, und
obendrauf war eine Art rundkegelförmiger Kopf ohne Gesicht und
ohne Haare, nur ganz oben auf dem Scheitel befand sich ein einziges
Auge, das unbewegt nach oben blickte.
Im Raum war es relativ hell, obschon er keine Fenster und kein Licht
hatte. Es herrschte aber über dem Kopf eine gewisse Helligkeit.
Das Ding bewegte sich nicht, jedoch hatte ich das Gefühl, als
ob es jeden Augenblick wurmartig von seinem Throne herunterkommen
und auf mich zukriechen könnte. Vor Angst war ich wie
gelähmt. In diesem unerträglichen Augenblick hörte ich
plötzlich meiner Mutters Stimme wie von aussen und oben welche
rief: "Ja, schau ihn Dir nur an. Das ist ein Menschenfresser!" Da
bekam ich einen Höllenschrecken und erwachte, schwitzend vor
Angst. Von da an hatte ich viele Abende lang Angst einzuschlafen,
weil ich fürchtete, ich könnte wieder einen ähnlichen
Traum haben.
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(...) Im Traum stieg ich hinunter in die Höhle und fand dort ein
anderes Wesen auf dem goldenen Thron, unmenschlich und unterweltlich,
und es blickte unverwandt nach oben und nährte sich von Menschenfleisch.
Erst volle fünfzig Jahre später brannte mir die
Stelle aus einem Kommentar über religiöse Riten in die Augen,
in welchem vom anthropophagischen Grundmotiv im Abendmahlssymbolismus die
Rede ist. Da erst wurde mir klar, wie überaus unkindlich, wie reif, ja
sogar wie überreif der Gedanke ist, der sich in diesen beiden Erlebnissen
zur Bewusstheit durchzuringen begann. Wer sprach damals in mir? Wessen
Geist hat diese Erlebnisse ersonnen? Welche überlegene Einsicht war
hier am Werk? Ich weiss, für jeden Flachkopf liegt die Versuchung
nahe, vom "schwarzen Mann" oder vom "Menschenfresser" und
vom "Zufall" und "späteren Hineindeuten" zu faseln, um etwas schrecklich
Unbequemes schnell wegzuwischen, damit ja keine familiäre
Harmlosigkeit getrübt werde. Ach, diese braven tüchtigen,
gesunden Menschen, sie kommen mir immer vor wie jene optimistischen
Kaulquappen, die in einer Regenwasserpfütze dichtgedrängt
und freundlich schwänzelnd an der Sonne liegen,
im seichtesten aller Gewässer, und nicht ahnen, dass schon morgen
die Pfütze ausgetrocknet ist.
Was sprach damals in mir? Wer redete Worte überlegener Problematik?
Wer stellte das Oben und das Unten zusammen und legte damit den
Grund zu all dem, was die ganze zweite Hälfte meines Lebens mit
Stürmen leidenschaftlichster Natur erfüllte? Wer störte
ungetrübte, harmloseste Kindheit mit schwerer Ahnung reifsten
Menschenlebens? Wer anders als der fremde Gast, der
von Oben und von Unten kam?
Durch diesen Kindertraum wurde ich in die Geheimnisse der
Erde eingeweiht. Es fand damals sozusagen ein
Begräbnis in die Erde statt, und es vergingen Jahre, bis ich wieder
hervorkam. Heute weiss ich, dass es geschah, um das grösstmöglichste
Mass von Licht in die Dunkelheit zu bringen. Es war eine Art Initiation
in das Reich des Dunkeln. Damals hat mein geistiges Leben seinen
unbewussten Anfang genommen.
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Ausschnitte aus dem Buch:
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"Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung" |
aufgezeichnet von Aniela Jaffé |
Walter-Verlag AG Zürich, 11. Auflage, Sonderausgabe, 1999 |
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